Zechensterben

Zechensterben

Historischer Kriminalroman

Das Ende des Wirtschaftswunders

Sommer 1966. Kohlenhalden im Ruhrgebiet, Zechen werden dichtgemacht, Bergleute gehen auf die Straße.
Unter einer Brücke im Oberhausener Stadtteil Sterkrade liegt ein toter Junge. Die Mutter des Kindes glaubt an eine Strafe Gottes, Oberinspektor Manni Wagner hat daran seine Zweifel und stößt auf eine Geschichte, die bereits 1947 begann.
Er ermittelt in einer Schrebergartenkolonie und einer Duisburger Hafenbar, stellt sich in der Eifel schrecklichen Erinnerungen und verpasst das Finale der Weltmeisterschaft. Während in Wembley ein Tor fällt, das keines ist, sitzt er einem Mörder gegenüber.

emons: kriminalroman – 288 Seiten 
ISBN 978-3-89705-866-8
www.emons-verlag.de 

Cover 2023 Zechen 47

Blick ins Buch

 

 

Der Fall war abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen eingestellt.
  Manfred Wagner war wütend. Er warf seine Zigarettenkippe achtlos auf die grauen Betonplatten. Ein paar Tauben stürzten sich flügelschlagend auf die ungenießbare Beute. Ein junges Tier pickte nach dem glimmenden Stummel. Wagner klatschte in die Hände. Die Vögel flatterten aufgeschreckt hoch. Er stand auf, trat die Kippe aus und setzte sich wieder auf die Parkbank am Rande des Friedensplatzes.
  Ein Vierzehnjähriger konnte doch nicht aus Versehen von einer Brücke fallen! Und dass der Junge gesprungen war, nein, das konnte auch nicht sein!
  Wagner zog eine neue Güldenring aus dem Zigarettenpäckchen und zündete sie an. Die Tauben kamen wieder herangehüpft und beäugten ihn.
  Ein junger Mensch, der hing doch an seinem Leben, verdammt noch mal! Wagner hatte nicht vergessen, wie sehr er den Tod gefürchtet hatte. Wie blutjunge Kerle damals um ihr Leben gebetet hatten, wie sie wimmernd durch die Schützengräben gekrochen waren, wie sie schreiend ihr Leben verloren hatten, das alles hatte er nicht vergessen. Das würde er niemals vergessen.
  Nein, es konnte nicht sein, dass im Sommer des Jahres 1966, in dem junge Menschen erwachsen wurden, die den Krieg nicht erlebt hatten, die Hunger und Kälte nicht kannten, die nicht einmal ahnten, was Hoffnungslosigkeit bedeutete, dass in dieser Zeit ein vierzehnjähriger Junge sein Leben wegwarf.
  Was bedeutete es schon, dass die Oberhausener Kriminalpolizei bei der Untersuchung des Todesfalls Joachim Hüwel keinen Anhaltspunkt für ein Fremdverschulden gefunden hatte?
  Missmutig schaute Wagner zur dunkelbraunen Backsteinfassade des Polizeipräsidiums hinüber.
  »Der Fall ist abgeschlossen«, hatte Kriminalrat Kerkhoff während der Morgenbesprechung erklärt, und er hatte keinen Zweifel an der Endgültigkeit seiner Auffassung zugelassen. Er hatte die Aktenmappe, die vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte, zugeschlagen und Wagners Kopfschütteln nicht zur Kenntnis genommen.
  »Der Junge ist jetzt seit zwanzig Tagen tot. Wir haben getan, was zu tun war. Die kriminaltechnischen Untersuchungen vor Ort, die Obduktion der Leiche, unsere Ermittlungen im Umfeld des Joachim Hüwel, all das hat zu nichts geführt. Hinweise auf ein Tötungsdelikt haben sich nicht ergeben.«
  »Hinweise auf eine Selbsttötungsabsicht des Jungen auch nicht«, hatte Wagner mürrisch gesagt.
  »Nach meiner Überzeugung war es ein tragischer Unglücksfall, eine Folge jugendlichen Leichtsinns. Wir haben nicht einen einzigen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass beim Sturz des Jungen von der Brücke auf die Bahngleise jemand nachgeholfen hat. Der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen einzustellen, ist deshalb aus kriminalpolizeilicher Sicht vorbehaltlos zuzustimmen«, hatte Kerkhoff unmissverständlich festgestellt.
  Für Wagner hatte er sich ein gönnerhaftes Lächeln abgerungen. »Ihr Eifer ehrt Sie ja, Herr Oberinspektor«, hatte er gesagt. »Aber auch Sie müssen sich damit abfinden, dass nicht jede Ermittlung mit der Überführung eines Täters enden kann.«
  »Darum geht es doch gar nicht, Herr Rat«, hatte Wagner entgegnet.
  Kerkhoff hatte abgewinkt, hatte mit einer flüchtigen Handbewegung alle weiteren Überlegungen und Einwendungen zum Fall Hüwel für unerwünscht erklärt.
  »Sehen Sie die Angelegenheit doch mal positiv, Wagner! Unsere Ermittlungen haben zu dem erfreulichen Ergebnis geführt, dass kein Fremdverschulden vorliegt. Also können wir die Akte Joachim Hüwel schließen und sie zu den aufgeklärten Fällen legen. Das ist es, was für uns zählt.«
  Dann hatte der Kriminalrat plötzlich den grünen Zettel in der Hand gehabt und gut gelaunt damit herumgewedelt. »Und Ihren Antrag, Wagner, den hab ich jetzt doch noch unterschrieben. Ab Montag können Sie drei Wochen Urlaub machen. Und weil Sie am Wochenende sowieso dienstfrei haben, ist schon morgen der letzte Arbeitstag für Sie.«
 »Ach«, hatte Wagner gesagt.
  An seinen Urlaubsantrag hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr gedacht. Er hatte ihn am sechzehnten Juni eingereicht, am Tag bevor der Junge zwischen den Bahngleisen gefunden worden war.
  »Ist Ihnen das jetzt zu kurzfristig?« Kerkhoff hatte ihn enttäuscht angesehen. »Ich versteh das ja, und zwingen will ich Sie nicht«, hatte er gesagt. »Wenn man am Donnerstag erfährt, dass man am Samstag in Urlaub fahren kann, bleibt natürlich keine Zeit mehr, um irgendwas zu planen und zu buchen. Aber solange wir mit dem Fall Hüwel beschäftigt waren, konnte ich Ihren Urlaubsantrag nicht unterschreiben. Das sehen Sie doch ein?«
  Ohne den Kriminalrat anzusehen, hatte Wagner wortlos genickt.
  Eine Reise zu buchen, war nie seine Absicht gewesen. Hin und wieder mal mit dem Motorrad hinauszufahren aus der Stadt an den Niederrhein, vielleicht mal bis ins Sauerland oder nach Holland rüber, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, einen Wind, der nicht nach Rauch und Ruß und Kohlenstaub stank, der nach Blüten und Gräsern und nach frischem Heu duftete, das hatte er sich vorgestellt.
  »Und am Montag fängt die Weltmeisterschaft an«, hatte Kerkhoff gesagt. »Allein dafür lohnt es sich doch schon, Urlaub zu machen. Sechzig Stunden Fußball bis zum Endspiel, abwechselnd im ersten und im zweiten Programm. Jede Menge Direktübertragungen. Ist das nicht phantastisch?«
 
»Ich hab kein Fernsehgerät«, hatte Wagner gesagt.

 

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